Die Leute der linken Partei, die ?brigens weniger zahlreich waren, mochten im Grunde ebenso unbedeutend sein wie die der rechten Partei, aber die Ruhe ihres Verhaltens lie? sie bedeutungsvoller erscheinen. Als K. jetzt zu reden begann, war er ?berzeugt, in ihrem Sinne zu sprechen.
»Ihre Frage, Herr Untersuchungsrichter, ob ich Zimmermaler bin – vielmehr, Sie haben gar nicht gefragt, sondern es mir auf den Kopf zugesagt –, ist bezeichnend f?r die ganze Art des Verfahrens, das gegen mich gef?hrt wird. Sie k?nnen einwenden, da? es ja ?berhaupt kein Verfahren ist, Sie haben sehr recht, denn es ist ja nur ein Verfahren, wenn ich es als solches anerkenne. Aber ich erkenne es also f?r den Augenblick jetzt an, aus Mitleid gewisserma?en. Man kann sich nicht anders als mitleidig dazu stellen, wenn man es ?berhaupt beachten will. Ich sage nicht, da? es ein liederliches Verfahren ist, aber ich m?chte Ihnen diese Bezeichnung zur Selbsterkenntnis angeboten haben.«
K. unterbrach sich und sah in den Saal hinunter. Was er gesagt hatte, war scharf, sch?rfer, als er es beabsichtigt hatte, aber doch richtig. Es h?tte Beifall hier oder dort verdient, es war jedoch alles still, man wartete offenbar gespannt auf das Folgende, es bereitete sich vielleicht in der Stille ein Ausbruch vor, der allem ein Ende machen w?rde. St?rend war es, da? sich jetzt die T?r am Saalende ?ffnete, die junge W?scherin, die ihre Arbeit wahrscheinlich beendet hatte, eintrat und trotz aller Vorsicht, die sie aufwendete, einige Blicke auf sich zog. Nur der Untersuchungsrichter machte K. unmittelbare Freude, denn er schien von den Worten sofort getroffen zu werden. Er hatte bisher stehend zugeh?rt, denn er war von K.s Ansprache ?berrascht worden, w?hrend er sich f?r die Galerie aufgerichtet hatte. Jetzt, in der Pause, setzte er sich allm?hlich, als sollte es nicht bemerkt werden. Wahrscheinlich um seine Miene zu beruhigen, nahm er wieder das Heftchen vor.
»Es hilft nichts«, fuhr K. fort, »auch Ihr Heftchen, Herr Untersuchungsrichter, best?tigt, was ich sage.« Zufrieden damit, nur seine ruhigen Worte in der fremden Versammlung zu h?ren, wagte es K. sogar, kurzerhand das Heft dem Untersuchungsrichter wegzunehmen und es mit den Fingerspitzen, als scheue er sich davor, an einem mittleren Blatte hochzuheben, so da? beiderseits die engbeschriebenen, fleckigen, gelbrandigen Bl?tter hinunterhingen. »Das sind die Akten des Untersuchungsrichters«, sagte er und lie? das Heft auf den Tisch hinunterfallen. »Lesen Sie darin ruhig weiter, Herr Untersuchungsrichter, vor diesem Schuldbuch f?rchte ich mich wahrhaftig nicht, obwohl es mir unzug?nglich ist, denn ich kann es nur mit zwei Fingern anfassen und w?rde es nicht in die Hand nehmen.« Es konnte nur ein Zeichen tiefer Dem?tigung sein oder es mu?te zumindest so aufgefa?t werden, da? der Untersuchungsrichter nach dem Heftchen, wie es auf den Tisch gefallen war, griff, es ein wenig in Ordnung zu bringen suchte und es wieder vornahm, um darin zu lesen.
Die Gesichter der Leute in der ersten Reihe waren so gespannt auf K. gerichtet, da? er ein Weilchen lang zu ihnen hinuntersah. Es waren durchwegs ?ltere M?nner, einige waren wei?b?rtig. Waren vielleicht sie die Entscheidenden, die die ganze Versammlung beeinflussen konnten, welche auch durch die Dem?tigung des Untersuchungsrichters sich nicht aus der Regungslosigkeit bringen lie?, in welche sie seit K.s Rede versunken war? »Was mir geschehen ist«, fuhr K. fort, etwas leiser als fr?her, und suchte immer wieder die Gesichter der ersten Reihe ab, was seiner Rede einen etwas fahrigen Ausdruck gab, »was mir geschehen ist, ist ja nur ein einzelner Fall und als solcher nicht sehr wichtig, da ich es nicht sehr schwer nehme, aber es ist das Zeichen eines Verfahrens, wie es gegen viele ge?bt wird. F?r diese stehe ich hier ein, nicht f?r mich.«
Er hatte unwillk?rlich seine Stimme erhoben. Irgendwo klatschte jemand mit erhobenen H?nden und rief: »Bravo! Warum denn nicht? Bravo! Und wieder Bravo!« Die in der ersten Reihe griffen hier und da in ihre B?rte, keiner kehrte sich wegen des Ausrufs um. Auch K. ma? ihm keine Bedeutung bei, war aber doch aufgemuntert; er hielt es jetzt gar nicht mehr f?r n?tig, da? alle Beifall klatschten, es gen?gte, wenn die Allgemeinheit ?ber die Sache nachzudenken begann und nur manchmal einer durch ?berredung gewonnen wurde.
»Ich will nicht Rednererfolg«, sagte K. aus dieser ?berlegung heraus, »er d?rfte mir auch nicht erreichbar sein. Der Herr Untersuchungsrichter spricht wahrscheinlich viel besser, es geh?rt ja zu seinem Beruf. Was ich will, ist nur die ?ffentliche Besprechung eines ?ffentlichen Mi?standes. H?ren Sie: Ich bin vor etwa zehn Tagen verhaftet worden, ?ber die Tatsache der Verhaftung selbst lache ich, aber das geh?rt jetzt nicht hierher. Ich wurde fr?h im Bett ?berfallen, vielleicht hatte man – es ist nach dem, was der Untersuchungsrichter sagte, nicht ausgeschlossen – den Befehl, irgendeinen Zimmermaler, der ebenso unschuldig ist wie ich, zu verhaften, aber man w?hlte mich. Das Nebenzimmer war von zwei groben W?chtern besetzt. Wenn ich ein gef?hrlicher R?uber w?re, h?tte man nicht bessere Vorsorge treffen k?nnen. Diese W?chter waren ?berdies demoralisiertes Gesindel, sie schw?tzten mir die Ohren voll, sie wollten sich bestechen lassen, sie wollten mir unter Vorspiegelungen W?sche und Kleider herauslocken, sie wollten Geld, um mir angeblich ein Fr?hst?ck zu bringen, nachdem sie mein eigenes Fr?hst?ck vor meinen Augen schamlos aufgegessen hatten. Nicht genug daran. Ich wurde in ein drittes Zimmer vor den Aufseher gef?hrt. Es war das Zimmer einer Dame, die ich sehr sch?tze, und ich mu?te zusehen, wie dieses Zimmer meinetwegen, aber ohne meine Schuld, durch die Anwesenheit der W?chter und des Aufsehers gewisserma?en verunreinigt wurde. Es war nicht leicht, ruhig zu bleiben. Es gelang mir aber, und ich fragte den Aufseher vollst?ndig ruhig – wenn er hier w?re, m??te er es best?tigen –, warum ich verhaftet sei. Was antwortete nun dieser Aufseher, den ich jetzt noch vor mir sehe, wie er auf dem Sessel der erw?hnten Dame als eine Darstellung des stumpfsinnigsten Hochmuts sitzt? Meine Herren, er antwortete im Grunde nichts, vielleicht wu?te er wirklich nichts, er hatte mich verhaftet und war damit zufrieden. Er hat sogar noch ein ?briges getan und in das Zimmer jener Dame drei niedrige Angestellte meiner Bank gebracht, die sich damit besch?ftigten, Photographien, Eigentum der Dame, zu betasten und in Unordnung zu bringen. Die Anwesenheit dieser Angestellten hatte nat?rlich noch einen andern Zweck, sie sollten, ebenso wie meine Vermieterin und ihr Dienstm?dchen, die Nachricht von meiner Verhaftung verbreiten, mein ?ffentliches Ansehen sch?digen und insbesondere in der Bank meine Stellung ersch?ttern. Nun ist nichts davon, auch nicht im geringsten, gelungen, selbst meine Vermieterin, eine ganz einfache Person – ich will ihren Namen hier in ehrendem Sinne nennen, sie hei?t Frau Grubach –, selbst Frau Grubach war verst?ndig genug, einzusehen, da? eine solche Verhaftung nicht mehr bedeutet, als einen Anschlag, den nicht gen?gend beaufsichtigte Jungen auf der Gasse ausf?hren. Ich wiederhole, mir hat das Ganze nur Unannehmlichkeiten und vor?bergehenden ?rger bereitet, h?tte es aber nicht auch schlimmere Folgen haben k?nnen?«
Als K. sich hier unterbrach und nach dem stillen Untersuchungsrichter hinsah, glaubte er zu bemerken, da? dieser gerade mit einem Blick jemandem in der Menge ein Zeichen gab. K. l?chelte und sagte: »Eben gibt hier neben mir der Herr Untersuchungsrichter jemandem von Ihnen ein geheimes Zeichen. Es sind also Leute unter Ihnen, die von hier oben dirigiert werden. Ich wei? nicht, ob das Zeichen jetzt Zischen oder Beifall bewirken sollte, und verzichte dadurch, da? ich die Sache vorzeitig verrate, ganz bewu?t darauf, die Bedeutung des Zeichens zu erfahren. Es ist mir vollst?ndig gleichg?ltig, und ich erm?chtige den Herrn Untersuchungsrichter ?ffentlich, seine bezahlten Angestellten dort unten, statt mit geheimen Zeichen, laut mit Worten zu befehligen, indem er etwa einmal sagt: ›Jetzt zischt!‹ und das n?chste Mal: ›Jetzt klatscht!‹«
In Verlegenheit oder Ungeduld r?ckte der Untersuchungsrichter auf seinem Sessel hin und her. Der Mann hinter ihm, mit dem er sich schon fr?her unterhalten hatte, beugte sich wieder zu ihm, sei es, um ihm im allgemeinen Mut zuzusprechen oder um ihm einen besonderen Rat zu geben. Unten unterhielten sich die Leute leise, aber lebhaft. Die zwei Parteien, die fr?her so entgegengesetzte Meinungen gehabt zu haben schienen, vermischten sich, einzelne Leute zeigten mit dem Finger auf K., andere auf den Untersuchungsrichter. Der neblige Dunst im Zimmer war ?u?erst l?stig, er verhinderte sogar eine genauere Beobachtung der Fernerstehenden. Besonders f?r die Galeriebesucher mu?te er st?rend sein, sie waren gezwungen, allerdings unter scheuen Seitenblicken nach dem Untersuchungsrichter, leise Fragen an die Versammlungsteilnehmer zu stellen, um sich n?her zu unterrichten. Die Antworten wurden im Schutz der vorgehaltenen H?nde ebenso leise gegeben.
»Ich bin gleich zu Ende«, sagte K. und schlug, da keine Glocke vorhanden war, mit der Faust auf den Tisch; im Schrecken dar?ber fuhren die K?pfe des Untersuchungsrichters und seines Ratgebers augenblicklich auseinander: »Mir steht die ganze Sache fern, ich beurteile sie daher ruhig, und Sie k?nnen, vorausgesetzt, da? Ihnen an diesem angeblichen Gericht etwas gelegen ist, gro?en Vorteil davon haben, wenn Sie mir zuh?ren. Ihre gegenseitigen Besprechungen dessen, was ich vorbringe, bitte ich Sie f?r sp?terhin zu verschieben, denn ich habe keine Zeit und werde bald weggehen.«
Sofort war es still, so sehr beherrschte K. schon die Versammlung. Man schrie nicht mehr durcheinander wie am Anfang, man klatschte nicht einmal mehr Beifall, aber man schien schon ?berzeugt oder auf dem n?chsten Wege dazu.
»Es ist kein Zweifel«, sagte K. sehr leise, denn ihn freute das angespannte Aufhorchen der ganzen Versammlung, in dieser Stille entstand ein Sausen, das aufreizender war als der verz?ckteste Beifall, »es ist kein Zweifel, da? hinter allen ?u?erungen dieses Gerichtes, in meinem Fall also hinter der Verhaftung und der heutigen Untersuchung, eine gro?e Organisation sich befindet. Eine Organisation, die nicht nur bestechliche W?chter, l?ppische Aufseher und Untersuchungsrichter, die g?nstigsten Falles bescheiden sind, besch?ftigt, sondern die weiterhin jedenfalls eine Richterschaft hohen und h?chsten Grades unterh?lt, mit dem zahllosen, unumg?nglichen Gefolge von Dienern, Schreibern, Gendarmen und anderen Hilfskr?ften, vielleicht sogar Henkern, ich scheue vor dem Wort nicht zur?ck. Und der Sinn dieser gro?en Organisation, meine Herren? Er besteht darin, da? unschuldige Personen verhaftet werden und gegen sie ein sinnloses und meistens, wie in meinem Fall, ergebnisloses Verfahren eingeleitet wird. Wie lie?e sich bei dieser Sinnlosigkeit des Ganzen die schlimmste Korruption der Beamtenschaft vermeiden? Das ist unm?glich, das br?chte auch der h?chste Richter nicht einmal f?r sich selbst zustande. Darum suchen die W?chter den Verhafteten die Kleider vom Leib zu stehlen, darum brechen Aufseher in fremde Wohnungen ein, darum sollen Unschuldige, statt verh?rt, lieber vor ganzen Versammlungen entw?rdigt werden. Die W?chter haben nur von Depots erz?hlt, in die man das Eigentum der Verhafteten bringt, ich wollte einmal diese Depotpl?tze sehen, in denen das m?hsam erarbeitete Verm?gen der Verhafteten fault, soweit es nicht von diebischen Depotbeamten gestohlen ist.« K. wurde durch ein Kreischen vom Saalende unterbrochen, er beschattete die Augen, um hinsehen zu k?nnen, denn das tr?be Tageslicht machte den Dunst wei?lich und blendete. Es handelte sich um die Waschfrau, die K. gleich bei ihrem Eintritt als eine wesentliche St?rung erkannt hatte. Ob sie jetzt schuldig war oder nicht, konnte man nicht erkennen. K. sah nur, da? ein Mann sie in einen Winkel bei der T?r gezogen hatte und dort an sich dr?ckte. Aber nicht sie kreischte, sondern der Mann, er hatte den Mund breit gezogen und blickte zur Decke. Ein kleiner Kreis hatte sich um beide gebildet, die Galeriebesucher in der N?he schienen dar?ber begeistert, da? der Ernst, den K. in die Versammlung eingef?hrt hatte, auf diese Weise unterbrochen wurde. K. wollte unter dem ersten Eindruck gleich hinlaufen, auch dachte er, allen w?rde daran gelegen sein, dort Ordnung zu schaffen und zumindest das Paar aus dem Saal zu weisen, aber die ersten Reihen vor ihm blieben ganz fest, keiner r?hrte sich, und keiner lie? K. durch. Im Gegenteil, man hinderte ihn, alte M?nner hielten den Arm vor, und irgendeine Hand – er hatte nicht Zeit, sich umzudrehen – fa?te ihn hinten am Kragen. K. dachte nicht eigentlich mehr an das Paar, ihm war, als werde seine Freiheit eingeschr?nkt, als mache man mit der Verhaftung ernst, und er sprang r?cksichtslos vom Podium hinunter.
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»Ihre Frage, Herr Untersuchungsrichter, ob ich Zimmermaler bin – vielmehr, Sie haben gar nicht gefragt, sondern es mir auf den Kopf zugesagt –, ist bezeichnend f?r die ganze Art des Verfahrens, das gegen mich gef?hrt wird. Sie k?nnen einwenden, da? es ja ?berhaupt kein Verfahren ist, Sie haben sehr recht, denn es ist ja nur ein Verfahren, wenn ich es als solches anerkenne. Aber ich erkenne es also f?r den Augenblick jetzt an, aus Mitleid gewisserma?en. Man kann sich nicht anders als mitleidig dazu stellen, wenn man es ?berhaupt beachten will. Ich sage nicht, da? es ein liederliches Verfahren ist, aber ich m?chte Ihnen diese Bezeichnung zur Selbsterkenntnis angeboten haben.«
K. unterbrach sich und sah in den Saal hinunter. Was er gesagt hatte, war scharf, sch?rfer, als er es beabsichtigt hatte, aber doch richtig. Es h?tte Beifall hier oder dort verdient, es war jedoch alles still, man wartete offenbar gespannt auf das Folgende, es bereitete sich vielleicht in der Stille ein Ausbruch vor, der allem ein Ende machen w?rde. St?rend war es, da? sich jetzt die T?r am Saalende ?ffnete, die junge W?scherin, die ihre Arbeit wahrscheinlich beendet hatte, eintrat und trotz aller Vorsicht, die sie aufwendete, einige Blicke auf sich zog. Nur der Untersuchungsrichter machte K. unmittelbare Freude, denn er schien von den Worten sofort getroffen zu werden. Er hatte bisher stehend zugeh?rt, denn er war von K.s Ansprache ?berrascht worden, w?hrend er sich f?r die Galerie aufgerichtet hatte. Jetzt, in der Pause, setzte er sich allm?hlich, als sollte es nicht bemerkt werden. Wahrscheinlich um seine Miene zu beruhigen, nahm er wieder das Heftchen vor.
»Es hilft nichts«, fuhr K. fort, »auch Ihr Heftchen, Herr Untersuchungsrichter, best?tigt, was ich sage.« Zufrieden damit, nur seine ruhigen Worte in der fremden Versammlung zu h?ren, wagte es K. sogar, kurzerhand das Heft dem Untersuchungsrichter wegzunehmen und es mit den Fingerspitzen, als scheue er sich davor, an einem mittleren Blatte hochzuheben, so da? beiderseits die engbeschriebenen, fleckigen, gelbrandigen Bl?tter hinunterhingen. »Das sind die Akten des Untersuchungsrichters«, sagte er und lie? das Heft auf den Tisch hinunterfallen. »Lesen Sie darin ruhig weiter, Herr Untersuchungsrichter, vor diesem Schuldbuch f?rchte ich mich wahrhaftig nicht, obwohl es mir unzug?nglich ist, denn ich kann es nur mit zwei Fingern anfassen und w?rde es nicht in die Hand nehmen.« Es konnte nur ein Zeichen tiefer Dem?tigung sein oder es mu?te zumindest so aufgefa?t werden, da? der Untersuchungsrichter nach dem Heftchen, wie es auf den Tisch gefallen war, griff, es ein wenig in Ordnung zu bringen suchte und es wieder vornahm, um darin zu lesen.
Die Gesichter der Leute in der ersten Reihe waren so gespannt auf K. gerichtet, da? er ein Weilchen lang zu ihnen hinuntersah. Es waren durchwegs ?ltere M?nner, einige waren wei?b?rtig. Waren vielleicht sie die Entscheidenden, die die ganze Versammlung beeinflussen konnten, welche auch durch die Dem?tigung des Untersuchungsrichters sich nicht aus der Regungslosigkeit bringen lie?, in welche sie seit K.s Rede versunken war? »Was mir geschehen ist«, fuhr K. fort, etwas leiser als fr?her, und suchte immer wieder die Gesichter der ersten Reihe ab, was seiner Rede einen etwas fahrigen Ausdruck gab, »was mir geschehen ist, ist ja nur ein einzelner Fall und als solcher nicht sehr wichtig, da ich es nicht sehr schwer nehme, aber es ist das Zeichen eines Verfahrens, wie es gegen viele ge?bt wird. F?r diese stehe ich hier ein, nicht f?r mich.«
Er hatte unwillk?rlich seine Stimme erhoben. Irgendwo klatschte jemand mit erhobenen H?nden und rief: »Bravo! Warum denn nicht? Bravo! Und wieder Bravo!« Die in der ersten Reihe griffen hier und da in ihre B?rte, keiner kehrte sich wegen des Ausrufs um. Auch K. ma? ihm keine Bedeutung bei, war aber doch aufgemuntert; er hielt es jetzt gar nicht mehr f?r n?tig, da? alle Beifall klatschten, es gen?gte, wenn die Allgemeinheit ?ber die Sache nachzudenken begann und nur manchmal einer durch ?berredung gewonnen wurde.
»Ich will nicht Rednererfolg«, sagte K. aus dieser ?berlegung heraus, »er d?rfte mir auch nicht erreichbar sein. Der Herr Untersuchungsrichter spricht wahrscheinlich viel besser, es geh?rt ja zu seinem Beruf. Was ich will, ist nur die ?ffentliche Besprechung eines ?ffentlichen Mi?standes. H?ren Sie: Ich bin vor etwa zehn Tagen verhaftet worden, ?ber die Tatsache der Verhaftung selbst lache ich, aber das geh?rt jetzt nicht hierher. Ich wurde fr?h im Bett ?berfallen, vielleicht hatte man – es ist nach dem, was der Untersuchungsrichter sagte, nicht ausgeschlossen – den Befehl, irgendeinen Zimmermaler, der ebenso unschuldig ist wie ich, zu verhaften, aber man w?hlte mich. Das Nebenzimmer war von zwei groben W?chtern besetzt. Wenn ich ein gef?hrlicher R?uber w?re, h?tte man nicht bessere Vorsorge treffen k?nnen. Diese W?chter waren ?berdies demoralisiertes Gesindel, sie schw?tzten mir die Ohren voll, sie wollten sich bestechen lassen, sie wollten mir unter Vorspiegelungen W?sche und Kleider herauslocken, sie wollten Geld, um mir angeblich ein Fr?hst?ck zu bringen, nachdem sie mein eigenes Fr?hst?ck vor meinen Augen schamlos aufgegessen hatten. Nicht genug daran. Ich wurde in ein drittes Zimmer vor den Aufseher gef?hrt. Es war das Zimmer einer Dame, die ich sehr sch?tze, und ich mu?te zusehen, wie dieses Zimmer meinetwegen, aber ohne meine Schuld, durch die Anwesenheit der W?chter und des Aufsehers gewisserma?en verunreinigt wurde. Es war nicht leicht, ruhig zu bleiben. Es gelang mir aber, und ich fragte den Aufseher vollst?ndig ruhig – wenn er hier w?re, m??te er es best?tigen –, warum ich verhaftet sei. Was antwortete nun dieser Aufseher, den ich jetzt noch vor mir sehe, wie er auf dem Sessel der erw?hnten Dame als eine Darstellung des stumpfsinnigsten Hochmuts sitzt? Meine Herren, er antwortete im Grunde nichts, vielleicht wu?te er wirklich nichts, er hatte mich verhaftet und war damit zufrieden. Er hat sogar noch ein ?briges getan und in das Zimmer jener Dame drei niedrige Angestellte meiner Bank gebracht, die sich damit besch?ftigten, Photographien, Eigentum der Dame, zu betasten und in Unordnung zu bringen. Die Anwesenheit dieser Angestellten hatte nat?rlich noch einen andern Zweck, sie sollten, ebenso wie meine Vermieterin und ihr Dienstm?dchen, die Nachricht von meiner Verhaftung verbreiten, mein ?ffentliches Ansehen sch?digen und insbesondere in der Bank meine Stellung ersch?ttern. Nun ist nichts davon, auch nicht im geringsten, gelungen, selbst meine Vermieterin, eine ganz einfache Person – ich will ihren Namen hier in ehrendem Sinne nennen, sie hei?t Frau Grubach –, selbst Frau Grubach war verst?ndig genug, einzusehen, da? eine solche Verhaftung nicht mehr bedeutet, als einen Anschlag, den nicht gen?gend beaufsichtigte Jungen auf der Gasse ausf?hren. Ich wiederhole, mir hat das Ganze nur Unannehmlichkeiten und vor?bergehenden ?rger bereitet, h?tte es aber nicht auch schlimmere Folgen haben k?nnen?«
Als K. sich hier unterbrach und nach dem stillen Untersuchungsrichter hinsah, glaubte er zu bemerken, da? dieser gerade mit einem Blick jemandem in der Menge ein Zeichen gab. K. l?chelte und sagte: »Eben gibt hier neben mir der Herr Untersuchungsrichter jemandem von Ihnen ein geheimes Zeichen. Es sind also Leute unter Ihnen, die von hier oben dirigiert werden. Ich wei? nicht, ob das Zeichen jetzt Zischen oder Beifall bewirken sollte, und verzichte dadurch, da? ich die Sache vorzeitig verrate, ganz bewu?t darauf, die Bedeutung des Zeichens zu erfahren. Es ist mir vollst?ndig gleichg?ltig, und ich erm?chtige den Herrn Untersuchungsrichter ?ffentlich, seine bezahlten Angestellten dort unten, statt mit geheimen Zeichen, laut mit Worten zu befehligen, indem er etwa einmal sagt: ›Jetzt zischt!‹ und das n?chste Mal: ›Jetzt klatscht!‹«
In Verlegenheit oder Ungeduld r?ckte der Untersuchungsrichter auf seinem Sessel hin und her. Der Mann hinter ihm, mit dem er sich schon fr?her unterhalten hatte, beugte sich wieder zu ihm, sei es, um ihm im allgemeinen Mut zuzusprechen oder um ihm einen besonderen Rat zu geben. Unten unterhielten sich die Leute leise, aber lebhaft. Die zwei Parteien, die fr?her so entgegengesetzte Meinungen gehabt zu haben schienen, vermischten sich, einzelne Leute zeigten mit dem Finger auf K., andere auf den Untersuchungsrichter. Der neblige Dunst im Zimmer war ?u?erst l?stig, er verhinderte sogar eine genauere Beobachtung der Fernerstehenden. Besonders f?r die Galeriebesucher mu?te er st?rend sein, sie waren gezwungen, allerdings unter scheuen Seitenblicken nach dem Untersuchungsrichter, leise Fragen an die Versammlungsteilnehmer zu stellen, um sich n?her zu unterrichten. Die Antworten wurden im Schutz der vorgehaltenen H?nde ebenso leise gegeben.
»Ich bin gleich zu Ende«, sagte K. und schlug, da keine Glocke vorhanden war, mit der Faust auf den Tisch; im Schrecken dar?ber fuhren die K?pfe des Untersuchungsrichters und seines Ratgebers augenblicklich auseinander: »Mir steht die ganze Sache fern, ich beurteile sie daher ruhig, und Sie k?nnen, vorausgesetzt, da? Ihnen an diesem angeblichen Gericht etwas gelegen ist, gro?en Vorteil davon haben, wenn Sie mir zuh?ren. Ihre gegenseitigen Besprechungen dessen, was ich vorbringe, bitte ich Sie f?r sp?terhin zu verschieben, denn ich habe keine Zeit und werde bald weggehen.«
Sofort war es still, so sehr beherrschte K. schon die Versammlung. Man schrie nicht mehr durcheinander wie am Anfang, man klatschte nicht einmal mehr Beifall, aber man schien schon ?berzeugt oder auf dem n?chsten Wege dazu.
»Es ist kein Zweifel«, sagte K. sehr leise, denn ihn freute das angespannte Aufhorchen der ganzen Versammlung, in dieser Stille entstand ein Sausen, das aufreizender war als der verz?ckteste Beifall, »es ist kein Zweifel, da? hinter allen ?u?erungen dieses Gerichtes, in meinem Fall also hinter der Verhaftung und der heutigen Untersuchung, eine gro?e Organisation sich befindet. Eine Organisation, die nicht nur bestechliche W?chter, l?ppische Aufseher und Untersuchungsrichter, die g?nstigsten Falles bescheiden sind, besch?ftigt, sondern die weiterhin jedenfalls eine Richterschaft hohen und h?chsten Grades unterh?lt, mit dem zahllosen, unumg?nglichen Gefolge von Dienern, Schreibern, Gendarmen und anderen Hilfskr?ften, vielleicht sogar Henkern, ich scheue vor dem Wort nicht zur?ck. Und der Sinn dieser gro?en Organisation, meine Herren? Er besteht darin, da? unschuldige Personen verhaftet werden und gegen sie ein sinnloses und meistens, wie in meinem Fall, ergebnisloses Verfahren eingeleitet wird. Wie lie?e sich bei dieser Sinnlosigkeit des Ganzen die schlimmste Korruption der Beamtenschaft vermeiden? Das ist unm?glich, das br?chte auch der h?chste Richter nicht einmal f?r sich selbst zustande. Darum suchen die W?chter den Verhafteten die Kleider vom Leib zu stehlen, darum brechen Aufseher in fremde Wohnungen ein, darum sollen Unschuldige, statt verh?rt, lieber vor ganzen Versammlungen entw?rdigt werden. Die W?chter haben nur von Depots erz?hlt, in die man das Eigentum der Verhafteten bringt, ich wollte einmal diese Depotpl?tze sehen, in denen das m?hsam erarbeitete Verm?gen der Verhafteten fault, soweit es nicht von diebischen Depotbeamten gestohlen ist.« K. wurde durch ein Kreischen vom Saalende unterbrochen, er beschattete die Augen, um hinsehen zu k?nnen, denn das tr?be Tageslicht machte den Dunst wei?lich und blendete. Es handelte sich um die Waschfrau, die K. gleich bei ihrem Eintritt als eine wesentliche St?rung erkannt hatte. Ob sie jetzt schuldig war oder nicht, konnte man nicht erkennen. K. sah nur, da? ein Mann sie in einen Winkel bei der T?r gezogen hatte und dort an sich dr?ckte. Aber nicht sie kreischte, sondern der Mann, er hatte den Mund breit gezogen und blickte zur Decke. Ein kleiner Kreis hatte sich um beide gebildet, die Galeriebesucher in der N?he schienen dar?ber begeistert, da? der Ernst, den K. in die Versammlung eingef?hrt hatte, auf diese Weise unterbrochen wurde. K. wollte unter dem ersten Eindruck gleich hinlaufen, auch dachte er, allen w?rde daran gelegen sein, dort Ordnung zu schaffen und zumindest das Paar aus dem Saal zu weisen, aber die ersten Reihen vor ihm blieben ganz fest, keiner r?hrte sich, und keiner lie? K. durch. Im Gegenteil, man hinderte ihn, alte M?nner hielten den Arm vor, und irgendeine Hand – er hatte nicht Zeit, sich umzudrehen – fa?te ihn hinten am Kragen. K. dachte nicht eigentlich mehr an das Paar, ihm war, als werde seine Freiheit eingeschr?nkt, als mache man mit der Verhaftung ernst, und er sprang r?cksichtslos vom Podium hinunter.
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